Ein syndikalistischer Jahresrückblick
Das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu. Für die FAU Hannover ist dies allerdings alles andere als ein Grund, besinnlich die Hände in den Schoß zu legen. Ganz im Gegenteil: In den letzten Wochen brannte im Gewerkschaftslokal oft noch lange Licht. Arbeitsgruppen feilten an ihren betrieblichen Organizing-Strategien, Mitglieder und Nachbar*innen ließen sich zu schwierigen Situationen am Arbeitsplatz beraten, ein bunt gemischtes Publikum lauschte einem Vortrag. Auch wenn viele Pläne erst im kommenden Jahr in die Tat umgesetzt werden und nicht jede gewerkschaftliche Beratung zu einem öffentlichkeitswirksamen Konflikt gerät, wollen wir die Betriebsamkeit zum Anlass für einen syndikalistischen Jahresrückblick nehmen.
Anlaufpunkte schaffen, Selbstermächtigung ermöglichen
Ins neue Jahr startete die FAU Hannover gleich mit einem wegweisenden Ereignis – der gut besuchten Eröffnung ihres Gewerkschaftslokals in der Nieschlagstraße 1b. Vom neuen Anlaufpunkt versprachen sich die Gewerkschafter*innen eine gesteigerte Wahrnehmbarkeit und somit die Möglichkeit, mit syndikalistischen Praktiken und Ideen stärker in die Gesellschaft hinein zu wirken. Bislang scheint sich dieser Anspruch zu erfüllen. Das Lokal in Linden ist nicht nur zu einem Treffpunkt für Mitglieder geworden. Während der Öffnungszeiten freitags, aber auch bei Veranstaltungen und zur gewerkschaftlichen Beratung schauen regelmäßig Interessierte und Ratsuchende herein. Sie wollen sich über die FAU informieren, suchen Unterstützung oder ein Angebot zum Mitmachen und haben manchmal den ausgefüllten Mitgliedsantrag schon dabei. Doch dies ist nicht der einzige Grund, warum die FAU Hannover 2018 einen starken Mitgliederzuwachs verzeichnete.
Auch die seit 2016 bestehende gewerkschaftliche Beratung konnte in diesem Zuge mehr Arbeiter*innen erreichen, die mit Problemen im Job ringen. Die Beweggründe, dieses niedrigschwellige Angebot zu nutzen, sind vielfältig. Kündigungen, Mobbing am Arbeitsplatz, nicht vergütete Krankheitstage, strittige Urlaubsansprüche, widerrechtliche Sanktionen – die Fälle decken die ganze Palette an Schikanen ab, die sich Bosse, aber auch Behörden wie das Jobcenter, so einfallen lassen, um ihre Interessen auf Kosten der Lohnabhängigen durchzusetzen. Die Beratung ist jedoch nicht als Dienstleistung gedacht, sondern „ … ein Werkzeug zur Selbstermächtigung. Gemeinsam mit den Betroffenen sollen gewerkschaftliche Handlungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz und im Betrieb erörtert und aufgezeigt werden. “ So heißt es im überarbeiteten Mandat der Beratung, das die Vollversammlung der FAU Hannover im November beschlossen hat. Das neue Mandat soll gewährleisten, dass die Betroffenen noch besser ins Syndikat integriert und sich anbahnende Arbeitskonflikte wirksamer angegangen werden können.
Vom Einzelfall zum kollektiven Kampf
So wird die eine oder andere betriebliche Auseinandersetzung, die ihren Anfang in der gewerkschaftlichen Beratung nahm, 2019 sicher noch für Aufmerksamkeit sorgen. Zum basisgewerkschaftlichen Alltag gehören aber auch die vielen „kleinen Fälle“, die nicht immer an die Öffentlichkeit gelangen, für die Betroffenen jedoch unmittelbare Konsequenzen haben. Erst kürzlich gelang es einer Sozialarbeiterin mithilfe der FAU Hannover eine für sie nachteilige Dienstanweisung abzuwenden. Die Alleinerziehende sollte ohne Berücksichtigung der Betreuungssituation ihres Kindes ihre Arbeitstage ändern. Das ließ sie sich nicht gefallen und erreichte mit tatkräftiger und taktischer Unterstützung anderer Gewerkschaftsmitglieder, dass die Geschäftsführung von ihrem Vorhaben absah. Auch einem anderen Mitglied gelang im November ein kleiner Sieg. Der Krankenpflegerin war die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vorenthalten worden, weil die Krankschreibung während einer Vertretung erfolgte. Diese Praxis ist im Pflegesektor durchaus üblich, aber nichtsdestotrotz rechtswidrig. Am Ende musste das auch der Chef einsehen, der sich lieber doch nicht auf eine rechtliche Auseinandersetzung einlassen wollte und alle Forderungen des FAU-Mitglieds erfüllte.
Diese Beispiele zeigen, dass sich die gewerkschaftliche Organisierung lohnt, wenn es gilt, Rechte einzufordern oder Verbesserungen zu erkämpfen. Besonders deutlich machte dies 2018 der Kampf der Floristinnen bei Blumen Wolf im hannoverschen Hauptbahnhof. Die in der FAU Hannover organisierten Beschäftigten forderten unter anderem die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes sowie der gesetzlichen Ruhe- und Pausenzeiten. Aber auch einen Lohn, der zum Leben reicht – keine Selbstverständlichkeit im prekären Blumenhandel. Weil der Inhaber sich weigerte, auf die Gesprächsangebote der Gewerkschaft einzugehen, erhöhte diese, ganz ihrem kämpferischen Anspruch verpflichtet, den öffentlichen Druck. Dazu informierte sie hartnäckig Behörden wie die Gewerbeaufsicht und organisierte drei Kundgebungen in der Innenstadt. Am 2. Juni kamen rund 50 Gewerkschaftsmitglieder vorm Hauptbahnhof zusammen, um den Kolleginnen im Betrieb den Rücken zu stärken und potentielle Kund*innen über die Missstände in den Blumenläden aufzuklären. „Rücken krumm, Taschen leer? Arbeitskampf dann gibt es mehr!“, lautete eine der skandierten Parolen. Dieser beherzte, hartnäckige und solidarische Protest und das Durchhaltevermögen der organisierten Beschäftigten im Betrieb hat inzwischen Früchte getragen. Auch ohne klassische Tarifverhandlungen konnte die Einhaltung der Arbeitszeiten und ein höherer Lohn durchgesetzt werden. Damit ist der Kampf jedoch noch nicht vorbei und wird die FAU Hannover sicherlich auch 2019 begleiten.
Um betrieblich und gewerkschaftlich aktiv werden zu können, bedarf es jedoch auch des nötigen „Handwerkszeugs“. Im letzten Jahr war die FAU Hannover deshalb nach Kräften bemüht, das dazu nötige Wissen an ihre Mitglieder zu vermitteln. So fand im April ein Workshop in Kooperation mit der FAU Jena statt, bei dem grundlegende Arbeitsrechte am Beispiel sogenannter Minijobs erklärt wurden. Im praktischen Teil der Schulung errechneten die Teilnehmer*innen Ansprüche, diskutierten aber auch, wie diese mit gewerkschaftlichen Mitteln durchgesetzt werden können. Gleich zwei Schulungen wurden mithilfe der FAU Berlin durchgeführt. In Göttingen, wo die FAU Hannover den Aufbau eines Syndikats unterstützt, führte eine Referentin in die grundlegenden Mittel der gewerkschaftlichen Aktion ein. Im Oktober war das Gewerkschaftslokal in Hannover bis auf den letzten Sitzplatz gefüllt, als zum Thema Betriebsgruppenaufbau referiert wurde. Nicht zuletzt sorgt der seit diesem Jahr immer zu Quartalsbeginn stattfindende Vortrag „FAU für Neueinsteiger*innen“ dafür, dass Neumitglieder und Interessierte sich einen Überblick über Praxis, Struktur und Funktionsweise der Basisgewerkschaft verschaffen können.
Mehr als Arbeit: Solidarische Alltagskultur, Freizeit, Bildung
Neben der konkreten betrieblichen Arbeit, zeigte sich die FAU Hannover auch in anderen Kontexten solidarisch und umtriebig. So folgten die Gewerkschafter*innen gleich zweimal den Aufrufen der aktion./.arbeitsunrecht zum „Schwarzen Freitag“. Sie organisierten Kundgebungen gegen den Essensauslieferer Deliveroo und den Einzelhändler real und prangerten die Betriebsrats- und gewerkschaftsfeindlichen Methoden dieser „Horrorarbeitgeber“ an. In manchen Fällen erfolgte solidarische Unterstützung auch finanziell. Zuletzt beschlossen die Mitglieder der FAU Hannover etwa, die mutige Lohneintreibung im Schwarzarbeits-Milieu des frisch gegründeten FAU-Syndikats Köln/Aachen mit einer kleinen Spende zu unterstützen. Darüber hinaus waren FAU-Gewerkschafter*innen auch in diesem Jahr bei zahlreichen Demonstrationen anzutreffen. Sei es bei den Warnstreiks im öffentlichen Dienst, traditionell am 1. Mai oder bei Protesten gegen steigende Mieten oder die Angriffe des türkischen Militärs auf die kurdische Selbstverwaltung in Afrin.
Eine syndikalistische Kultur umfasst jedoch auch soziale und kulturelle Aspekte, die die Mitglieder der FAU Hannover zu etablieren suchen. Weil betriebliche Auseinandersetzungen an den Betroffenen nicht spurlos vorübergehen, versucht die Gewerkschaft Angebote zur Entlastung zu schaffen, bei denen der zwischenmenschliche Austausch außerhalb von Arbeitstreffen im Mittelpunkt steht. In diesem Jahr gehörten dazu eine Paddeltour auf der Leine und ein Sommerfest im Park. Für ein abwechslungsreiches Bildungsangebot und zuweilen auch die nötige Inspiration sorgt seit Mitte des Jahres die Veranstaltungs-AG, die regelmäßig öffentliche Vorträge im FAU-Lokal organisiert. Zu Gast war unter anderem ein Genosse der Schwestergewerkschaft CNT aus Katalonien, der die Rolle des Anarchosyndikalismus bei den dortigen Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit erörterte. Gleich zwei Veranstaltungen hatten die Kämpfe polnischer Sorgearbeiter*innen zum Thema. Daneben gab es Filme, Historisches und sogar eine Verköstigung kollektiv produzierter Lebensmittel.
Mitglieder der FAU Hannover hatten 2018 auch den Vorteil, gleich mehrere bundesweite Treffen quasi vor der Haustür miterleben zu können. Bereits zum zweiten Mal fand der Kongress der Gesamt-Föderation in Hannover statt und bot neben den Delegierten auch anderen Mitgliedern die Möglichkeit, sich mit Gewerkschafter*innen aus weiteren FAU-Syndikaten und internationalen Gästen auszutauschen. Auch das zweite bundesweite fem*FAU-Treffen zur Erarbeitung einer feministischen Gewerkschaftspraxis hatte im Februar hier stattgefunden, ebenso wie im Oktober das Treffen der Regionalföderation Nord. Nach wie vor unterstützt die FAU Hannover zudem den Aufbau einer Basisgewerkschaft in Göttingen. Damit diese Struktur in Zukunft handlungsfähig ist und auf eigenen Beinen stehen kann, wird momentan in Hannover und in Göttingen daran gearbeitet, das nötige Know-How zu vermitteln und erste Schritte zu planen.
Ein Bein im Betrieb, das andere im Übermorgen
Obwohl die aktiven und engagierten Mitglieder der FAU Hannover mit einigem Stolz auf das schauen, was 2018 erreicht und umgesetzt wurde, sehen sie sich auch mit strukturellen Herausforderungen und gesellschaftlichen Missständen konfrontiert. Gewerkschaftsintern gehört dazu stets die Frage, wie basisdemokratische Strukturen am besten umgesetzt werden können. Denn sie sollen die Beteiligung möglichst vieler fördern, betrieblichen Dynamiken gerecht werden und gleichzeitig wirkungsvoll und transparent sein. Das Hinterfragen und Weiterentwickeln von Organisationsstrukturen führte 2018 deshalb auch zu dem Schritt, die Branchengewerkschaft GGB und das Allgemeine Syndikat zu einer Gewerkschaft für alle Berufe zusammenzuführen. Nach intensiven Diskussionen versprachen sich die Vollversammlungen beider Syndikate davon mehr gewerkschaftliche Schlagkraft.
Und die ist bitter nötig! Angesichts der rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen, die in der BRD, Europa und global erstarken, braucht es Antworten von unten, die sich nicht im theoretischen Klein-Klein linker Debatten verlieren. Als Basisgewerkschaft steht die FAU Hannover mit ihren Schwestersyndikaten deshalb vor der Herausforderung, klassenkämpferische Perspektiven zu entwickeln, die der rechten Hetze, ebenso wie dem überall betriebenen Abbau von Arbeiter*innenrechten und Sozialleistungen etwas entgegensetzen. Machen wir uns nichts vor: Allein durch die ein oder andere Lohneintreibung oder die bloße Verteidigung geltenden Rechts werden wir diese Entwicklungen nicht aufhalten können. Dazu braucht es Strategien und Visionen, die weit über das hinausweisen, was wir 2018 erreicht haben. Aber ganz in syndikalistischer Manier versuchen wir uns auch 2019 daran, die konkreten Kämpfe im Hier und Jetzt mit dem Aufbau eines „utopischen Übermorgen“ zu verbinden. Die Mitglieder der FAU Hannover schauen daher durchaus kampflustig aufs kommende Jahr.
Wer sich diesen Jahresrückblick noch einmal auf der Zunge zergehen lassen möchte, ist herzlich zum Grünkohlessen am 8. Dezember um 18:00 Uhr im UJZ Korn eingeladen. Anmeldung: gruenkohl@fau.org Die Erlöse fließen in unsere Rechtshilfekasse. Wer noch Weihnachtsgeschenke oder gute Vorsätze für 2019 sucht: Schon mal über eine Mitgliedschaft in der FAU Hannover nachgedacht?